Herrschersruh: Das Grab der Könige

Herrschersruh: Das Grab der Könige

Der Hain des Lebens ist einer der zentralen Kultplätze der Gemeinschaft des Drachen und nach über fünfhundert Jahren ein wesentlicher Bestandteil des Brauchtums des galladoornischen Volkes. So steht jeder einzelne Baum im Hain des Lebens für Geburt, Leben und Tod eines drachengläubigen Bürger des Reiches. Denn jedesmal, wenn einer drachengläubigen Familie ein Kind geboren wird, wird im Hain des Lebens ein Baum für dieses Kind gepflanzt. Dieser Baum wächst gemeinsam mit diesem Kind heran und wächst mit all den Lebensjahren des Kindes zu einem erwachsenen Baum heran, so wie das Kind ein erwachsener Mensch wird. Und wenn der Tag kommt, an dem der Mensch stirbt und seine Seele sich aufmacht zur Ewig goldenen Stadt, so wird sein Baum gefällt und mit dem Holz dieses Baumes wird seine irdische Hülle verbrannt und so den Elementen zurückgegeben aus denen er besteht.

Als nun der erste König Galladoorns, der weise Siegmund von Eichenhain, den sein Volk liebte, und der sich nach dem Sieg über den Orden der Schatten und der Vereinigung der zwei Reiche siebenundzwanzig Jahre zuvor sich dem Drachenglauben zugewandt hatte, im Sterben lag, so wies er einen Holzfäller an seinem Hofe an, auszuziehen nach Osten, wo seine Familie ihre Gräber und er seinen Baum gepflanzt hatte, um dort seinen Lebensbaum zu fällen.

Der Holzfäller, ein treuer Diener seines Herrn, begab sich sofort zur königlichen Eiche, die da, noch jung an Jahren, sprieß und in vollster Blüte stand. Doch als er sein Beil ansetzte zum ersten Hieb, blickte er noch einmal an dem schon stolzen Stamm empor. Und etwas regte sich in ihm, als er da stand, eine tiefe Traurigkeit. Und so brachte er es nicht übers Herz, dem Lebensbaum seines geliebten Königs, der Eiche des Reiches, Schaden zuzufügen. Er ließ die Axt sinken und zu Boden gleiten und unverrichteter Dinge kehrte er zur mächtigen Starkburg zurück, dem Sitz der Familie Eichenhain seit undenkbaren Zeiten, und trat voller Trauer vor das Sterbelager seines Herrn. Dieser sah ihn mit müden, aber überrascht blickenden  Augen an, denn er erkannte die Missstimmung seines Dieners, und auch dass dieser ihm nicht, wie er es geboten hatte, einen jungen Ast von seinem Baum gebracht hatte. Auch die Ritter, Heiler und selbst die Knechte und Mägde in dem großen und prunkvoll eingerichteten Raum, waren sichtlich überrascht und leises Getuschel erklang allerorts. Da setzte sich König Siegmund mit großer Kraftanstrengung in seinem Sterbebett auf, so dass die Heiler ihm sofort an die Seite sprangen, und mit leiser, aber fester Stimme herrscht er den Holzfäller an:

„Was ist Ihm wiederfahren, Mann? Geboten Wir Ihm nicht, Uns die Eiche zu schlagen, wie es die heiligen Rituale des Großen Drachen vorschreiben, und geboten Wir Ihm nicht, Uns ein Ästelein vom geliebten Baume zu bringen, so dass wir  in tiefster Verbundenheit zu Reich und Familie in die Ewig Goldene Stadt einzuziehen vermögen? Doch mit leerer Hand und ohne die Axt eurer Zunft steht Er mit trauernder Miene vor Seinem sterbenden König. Was ist mit dem Symbol Unseres Seins, der Eiche des Reiches? Ist sie nicht geschlagen? Sprecht!“

Der Holzfäller wand sich sichtlich unter der scharfen Rede des Königs, und voller Verzweiflung sprach er, als er den Mund öffnete:

„Mein König, verzeiht mir! Ich vermochte es nicht zu tun. Ich konnte des Siegmunds Lebenseiche nicht einen Axthieb beibringen, noch einen Ast von ihm brechen. Jenem Baum, der euch gleich ist, und den wir, euer Volk so sehr lieben. Was soll mit dem Reich der Eiche geschehen, wenn die Eiche des Reiches geschlagen und der Eichenkönig Galladoorns in glorreicher Pracht in die Ewig Goldene Stadt eingezogen ist, und mit den Göttern, seinen edlen Ahnen und dem Großen Drachen selbst für alle Zeit in Harmonie und Frieden zu schwelgen vermag? Als ich in jungen Jahren das Handwerk meines Vaters erlernte, da sprach er zu mir: „Das ist der Baum seiner königlichen Hoheit Siegmund von Eichenhain, der unsere Völker im üblen Bruderzwist vereinte. Nie darfst du Hand an ihn legen, denn er ist gleich dem Leben des Königs, und der König ist das Reich. Wenn die Eiche fällt, so mag das Reich fallen. Und was soll dann aus uns allen werden?“ Mein König, ich kann nicht derjenige sein, der Hand an euren Baum, ja,  an euer Leben legt. An Euch, die Ihr all die Jahre so weise und gut zu Eurem Volk wart, der uns geeint hat und die Bruderkrone des Reiches trägt. Ich bitte Euch, lasst mich meinen Baum fällen, so es dem Großen Drachen gefällt. Ich bin nur ein einfacher Holzfäller und mein Lebensbaum ist nicht von gleicher Güte, wie der eure. Doch mein Leben ist ohnehin verwirkt, da ich es wagte Euren königlichen Befehl zu missachteten, und auch, weil ich es wagte der königlichen Majestät ein, eines Königs unwürdiges Geschenk anzubieten, aber dieses mindere Geschenk  brachte ich aus höherer  Moral dar, mein König. Eure Eiche ist die Eiche des Reiches und das lebende Zeichen eurer Größe und Güte, und nichts weniger als das Holz dieses Baumes hättet ihr verdient, um euren Körper den ewigen Elementen zurückzugegeben. Doch ich bitte euch, Majestät, verschont diesen, euren Baum. Und wenn nicht, so muss ich doch wenigstens nicht mit ansehen, wie ein anderer Hand an den heiligen Baum des Reiches legt, der eichenhainer Eiche, den Baum des Siegmund von Eichenhain, unseres geliebten Königs, des ersten von Galladoorn.“

So sprach der Holzfäller.

Der König schwieg eine lange Zeit, und als er antwortete war seine Stimme leise und sanft:

„Seine leidenschaftliche Rede ward gehört und wurde verstanden, und Sein Leben sei daher verschont. Wir sehen nun klarer, und doch vermögen Wir es nicht, Sein Geschenk anzunehmen, denn auch ein König ist dessen nicht würdig. Ein Geschenk von solch hoher Moral beschämt Uns und erfüllt Uns mit höchstem Glück. Seine Liebe zu Krone und Reich zeichnet Ihn vor manch anderem aus, und solch Mut soll nicht vergebens gewesen sein. Wenn Unser Lebensbaum dem Volke das ist, wie Er es spricht, so soll des Reiches Eiche mit seinen Wurzeln mit Unserem Land selbst nach Unserem Verscheiden verbunden bleiben, und selbst dann noch dorten stehen, wenn Wir längst vergangen sind. Und dort soll sie stehen auf alle Zeit, weithin sichtbar, um jedermann zu jederzeit zu ermahnen, dass Gerechtigkeit, Treue und Stärke auf ewig diesem Land verbunden bleiben werden, wie die Wurzeln dieser Eiche. Niemals soll sie geschlagen werden! Das beschließen Wir, Siegmund von Eichenhain, König von Galladoorn, hier und jetzt, um das Volk und jedermann stets an die Weisheit, Gerechtigkeit und Stärke der Familie von Eichenhain zu erinnern.“

Siegmund von Eichenhain lächelt als sein Blick wieder auf den Holzfäller fiel, der, wie auch die Heiler, Schreiber, Ritter und sogar der Sohn des Königs selbst, vor seinem König auf die Knie gesunken war, als dieser sprach.

„Und da Er seinen eigenen Baum noch benötigen wird, so verfügen Wir noch das folgende: Wenn Wir gegangen sind, so bettet Unseren Körper unterhalb der Eiche in die Hügel zu Füßen Unseres Hains, zwischen die Wurzeln der Eiche, damit Unsere Gebeine stets dort sind, wo Wir Zeit Unseres Lebens glücklich waren, ins Herz Unseres geliebten Reiches Galladoorn. Und jene, die nach Uns kommen mögen, soll es frei stehen Unserer Idee zu folgen, solange die Eiche des Reiches dort stehe oder gar durch weitere Bäume Unserer Erben ergänzet worden sei, die die Grundfesten Unseres Reiches noch verstärken mögen! Dies ist Unser Wunsch, und dies ist Unser Wille! Auf das die Eiche auf alle Zeit ungeschlagen dort stehe und in ihrem Schoße die Könige des Reiches auf immerdar im Frieden ewigen Schlafes ruhen mögen, bis  zu jenem Tag, an den Wir uns alle in der Ewig Goldenen Stadt wiedersehen mögen! So sei es verfügt, und so soll geschehen…für Galladoorn! Ein Reich…!“

Und aus vielen Kehlen erscholl aus vollster Brust die Vervollständigung des Mottos der galladoornischen Ritterschaft: „…UND EIN WILLE!“

Bald nach diesem Geschehen verstarb der weise König Siegmund, und das Volk trauerte lange um ihn. Doch sein letzter Wille wurde alsbald erfüllt. So trug man seinen Körper zum Fuße jener Eiche, die die seine gewesen war, solange er gelebt hatte. Dort bahrte man ihn auf, damit das Volk ihn sehen und ihm Lebewohl und eine gute Reise wünschen konnte, und sie kamen in großer Menge. Während das Volk sich vom ersten König des vereinten Reiches verabschiedete, trieben Arbeiter einen Stollen in die Hänge unterhalb des Lebenshaines der Familie von Eichenhain, auf dem bereits neue Sprösslinge heranwuchsen. Diese Stollen wurden mit bestem Granit verkleidet und schon bald darauf war die Gruft vollendet und der König wurde in einer geräumigen Kaverne inmitten des Hügels in einem samtenen Polster auf einen Block aus feinstem Marmor gebettet.

Und dort ruht der erste König noch heute, und mit ihm die meisten seiner edlen Linie. Aus der Gruft war im Laufe der Jahrhunderte eine gewaltige Nekropole erwachsen, Siegmundsgruft geheißen, nach dem ersten jenes starken Geschlechts, über jener sich der dichtbewachsene Hain derer von Eichenhain erstreckt, in deren Mitte eine gewaltige Eiche alle anderen Bäume bei weitem überragt. Um den Stamm dieser Eiche vermochten selbst fünf Mann nicht herumzugreifen, denn dies ist die Siegmundseiche, die Eiche des Reiches und man würde Dutzende Männer mit Äxten und viel Zeit benötigen, um dieses gewaltige Gewächs zu stürzen. Nichts hat sie je erschüttern können, und solange sie nicht stürzte, konnte nichts das Reich je zu Fall bringen. In ersten Jahren nach König Siegmunds Tod entstand vor dem Eingang zur Gruft eine Kapelle, nach der zweiten Frau König Gundolfs des Demütigen Marlithiakapelle geheißen, in der seit ihrer Fertigstellung die Könige Galladoorn aufgebahrt werden, bis zu dem Tag ihrer Grablege. Unweit dieser heiligen Stätte erstreckt sich die Stadt Herrschersruh, wo sich jene ansiedelten, die die Gruften schufen und erweiterten oder der Heiligkeit des Ortes nahe sein wollen. Bis heute nutzt die Familie von Eichenhain sowohl den Hain des Lebens auf dem Hügel, als auch die Nekropole am unteren Ende des Hanges.

Und am Fuß der gewaltigen Siegmundseiche im Zentrum des Hains, zwischen den manndicken Strängen der Wurzeln, steht ein kleiner, uralter, steinerner und fest verschlossener Schrein, bereits von manchen Wurzeln umschlungen, auf dessen Oberfläche eine kleine, schlichte Axt gemeißelt ist, und darunter steht,  ebenfalls in den Stein gemeißelt, der Satz:

„Einem mutigen Herzen und aufrechtem Geist in großer Dankbarkeit! – Das Volk Galladoorns“