Das „Napoiti“ – Antrinken in Gesellschaft

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Auszug aus:

„Amadeus Jacobus von Lichtenhains
Leitfaden für den mittelländischen Reisenden in das Land zu Kharkov“

 

„[…] Seltsam und unwirklich, gar zum Teil unbegreiflich scheinen uns die Sitten und Riten der Kharkovianer. Nichts desto trotz ist es unsere Aufgabe als belesene Reisende eben jene Bräuche, so unsinnig und primitiv sie uns auch erscheinen mögen, Respekt entgegen zu bringen und sie mit den Einheimischen zu teilen. Der folgende Abschnitt meiner Abhandlung über die Lebensweise der Bevölkerung des Zarenreiches Kharkovs wird sich mit der Aufnahme von Speis und Trank beschäftigen, sowie mit den damit verbundenen Riten. […]

 

Die Einladung zum Wodka:

Der Kharkovianer, ob einfacher Bauer oder einflussreicher Herrscher, ist für seine uns vielleicht übermäßig erscheinende Gastfreundschaft bekannt. Der geneigte Besucher des Zarenreiches wird daher nicht lange warten müssen, um seine erste Einladung zu einem Begrüßungs- oder Umtrunk, „Napoiti“ genannt, zu erhalten.
Genauso bedeutend wie die Darreichung der Gastfreundschaft ist dem kharkovianischen Gastgeber jedoch auch die Annahme seiner Gesten. Der geneigte Leser sollte daher, nur falls es die Umstände es nicht zulassen, oder eine Frage nach der Sauberkeit von Glas und, oder Getränk und damit der Gefahr einer Infektion offen bleibt, diese Einladung ablehnen. Der Gastgeber könnte sich schnell gekränkt fühlen und ein uns eventuell kindisch erscheinendes Verhalten zur Schau stellen. Trotz, Unfreundlichkeit oder gar Missachtung könnten aus der einstigen Gastfreundschaft des Kharkovianers erwachsen.

 

Die Darreichung des sogenannten „Wässerchens“:

Wodka entfaltet seinen wahren Geschmack nur nach dessen Kühlung, sagt man. Niemals jedoch würde der Kharkovianer sein Getränk mit Eis „verdünnen“. Niemals auch wird der Wodka in einem Becher größer als ein kleines Schnapsglas ausgeschenkt, selbst dann nicht, wenn angestrebt wird mehr der klaren Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Ein Bauer kann noch so arm sein. Fehlen im auch die Schuhe an des Füßen, stets finden sich doch mindestens zwei kleine Becher aus Metall oder gar Glas in seinem Besitz, eines für den Gast und eines für den Gastgeber.

 

Der Imbiss zum Wodka:

Wegen seines hohen Alkoholanteiles werden nicht selten Vorspeisen, sogenannte „sakusska“ zum größeren Wodkaverzehr gereicht. Grade scharfe und fette Speisen, wie saure Gurken, Wurst und andere Fleischspeisen bietet daher der kharkovianische Gastgeber grade dem ausländischen Gast zum guten „Wässerchen“. Diese Speisen sollten, solange annähernd ansehnlich erscheind und nicht durch strengen Duft verschreckend, vom geneigten Leser auch stets angenommen werden. Die Speise mach den Bauch und das Blut des Trinkers unantastbarer für das Gift des Alkohols. Schon so manchem Reisenden soll dies vor Diebstahl gerettet haben, da dieser dem Rausch widerstand und somit gewappnet blieb gegen die flinken Finger kharkovianischer Bauern.

 

„Trinken ohne Anlass ist Trunksucht“
(kharkovianisches Sprichwort)

Bevor der Kharkovianer sein Glas zum Mund führt, muss stets ein Grund gefunden sein, sein Glas zu leeren. Doch ein Anlass zum Trinken findet sich immer:
„Auf die Geselligkeit!“ „Auf die neue Kuh!“ „Auf den Zaren und auf Mütterchen Kharkov!“

Es scheinen gar unzählige Anlässe und Personen, zum Teil sogar Tiere und Wetterlagen zu geben, die es wert sind sein Glas in diesem Land zu erheben.
Geschwätzige Weber berichten gar, dass so mancher Ehemann auch schon auf ausländische Feiertage anstieß, nur um sich mit dem Nachbarn der Geselligkeit des Wodkas hinzugeben.

 

Der Trinkspruch:

Ist ein Grund gefunden, sein gefülltes Glas zu erheben, so wird es Zeit für den Trinkspruch. Der ausländische Gast sein gewarnt, das Leeren des Glases ohne Trinkspruch bringt nach dem abergläubischen Volke Unglück!

Neben der Erwähnung des Anlasses als Trinkspruch, gibt es in Kharkov eine Vielzahl traditioneller nationaler Trinksprüche. Dem ausländischen Leser seinen hier einige genannt:

  • „Wodka ist Gift, Gift ist Tod, Tod ist Schlaf, Schlaf ist Gesundheit. Wollen wir auf unsere Gesundheit trinken!“
  • Auf das Wohl der Feinde Deiner Feinde!
  • Hüte dich vor denen, die nur Wasser trinken und sich am nächsten Tag erinnern, was die anderen am Abend zuvor gesagt haben.

Viele der traditionellen kharkovianischen Trinksprüche übermitteln alte Bauernweisheiten, aber auch spöttische belustigende Geschichten werden auf diese Weise untereinander gelehrt. Meine Untersuchungen in diesem Bereich deuten darauf hin, dass es sich bei dieser Weise der Erzählung, um eine entfernt verwandte Kunst unseres Märchen- oder Sagenerzählens handeln muss.

 

Das Trinken:

Entscheidet sich der geneigte Leser die Einladung seines kharkovianischen Gastgebers anzunehmen und den Wodka mit ihm zu teilen, so sei der Leser darauf vorbereitet, dass das Glas vollständig geleert werden muss. Der starke Alkohol sollte in einem kräftigen Schluck zu sich genohmen werden. Obacht sei hier geboten! Ein höfliches vorsichtiges Nippen am Glas führt in diesem rauhen Landen unweigerlich zur Belustigung der anwesenden Kharkovianer. Ausländern, im besonderen wohlbetuchten Bürger, gebildeten Magistern und kultivierten Adligen, wird in Kharkov nicht selten nachgesagt, sie würden den starken Alkohol nicht vertragen und entsprächen nicht dem Bild eines „echten Mannes“. Grade in bäuerlichen Umgebungen ist daher mit solchem Spot schon im Vorfeld des Wodgagenusses zu rechnen.
Während das Nippen am Glas mit Spot vergolten wird, drohen dem, der sein Glas nicht leert, ein finsterer Blick. Der kharkovianische Gastgeber könnte sich, sollte man sein Glas nicht leeren, beleidigt fühlen, entsteht doch der Verdacht, das Getränk habe nicht geschmeckt.

[…] Mögen diese Leitlinien dem geneigten Leser eine wohlbehütete Reise ermöglichen und er trotz aller Entbehrung an Wohlstand und Sittlichkeit in diesen wilden ungezügelten Landen gesund und sauber zurück in die zivilisierte Welt zurückkehren.

 

Ihr Amadeus Jacobus von Lichtenhain“

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