Die Rasskazchik – die Bruderschaft der Geschichtenerzähler

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Nicht viel ist Außenstehenden über die Rasskazchik, „ der Bruderschaft der Geschichtenerzähler“ bekannt. Sie werden als einsame Wanderer beschrieben, welche ihren Platz in der Herberge und ihr täglich Brot durch das Erzählen von Geschichten verdienen. Ohne festen Wohnsitz und ohne größeren Besitz durchstreifen sie die Grafschaften und Fürstentümer Kharkovs. Obwohl die Mitglieder der Bruderschaft der Rasskazchik zumeist alleine unterwegs sind, wird davon berichtet, dass sie sich als Teil einer großen Gemeinschaft von Geschichtenerzählern verstehen, welche man mit einer Gilde vergleichen könnte. Strenge Regeln und Gesetzte prägen ihr Leben und Handeln, was sie von gewöhnlichen Erzählern unterscheidet.

Ansehen und Stellung

Obwohl diese Geschichtenerzähler über kaum Besitz und kein Land verfügen, ist ihr Ansehen sowohl unter den einfachen Bauern und Hirten, als auch bei den Reichen Kaufleuten und dem Adel groß. Kommt der Erzähler in die Stadt, ist die Freude unter den Menschen groß, bringt er doch mit seinen Geschichten und dem Zauber, der ihn umgibt, eine willkommene Abwechslung zum drüben Alltag und dem ewig nasskalten Wetter. Alles was er für seine Geschichten fordert, ist die Gastfreundschaft, ein Dach für ein oder zwei Nächte und etwas Proviant für die weitere Reise. Gerne kommen die Menschen seinen Bitten nach.
Abends versammelt man sich vor dem Kamin bei warmen Tee und Gebäck und lauscht den Märchen, Sagen und Volksweisen, die der Fremde aus allen Teilen Kharkovs gesammelt hat. Vor allem für die Kinder scheint der Erzähler selbst wie ein Geschöpf aus einem Märchen. Mit großen Augen schauen sie wie gebannt auf seine Lippen in der Sorge, ein Wort aus seinem Munde könnte ihnen entgehen.
Auch am Hofe der hohen Herren ist der Erzähler ein gern gesehener Gast. Man lässt ihn im Stall bei den Tieren oder im Haus beim Gesindel schlafen und gewährt ihm, seinen Bauch mit warmen Speisen und seinen Rucksack mit Wurst, Käse und Brot zu füllen. Selbst der Adel lauscht gern Geschichten und so ist bekannt, dass Grafen sich für eine Feier berühmte Erzähler in ihr Anwesen einluden.

Ausbildung

Nur durch die Lehre bei einem Meister, ist es möglich das alte Handwerk zu lernen und ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Jeweils nur einem Schüler gleichzeitig wird die Ehre der Ausbildung zu Teil. Neun Jahre und neun Tage tritt der Schüler in den Dienst seines Lehrmeisters, bevor er von diesem selbst zum Meister erhoben wird und wiederum Lehrlinge aufnehmen darf. Während dieser Dauer hat der den Worten und Anweisungen seines Lehrers uneingeschränkt Folge zu leisten, ihm Respekt zu zollen und keine Widerworte zu entgegnen. Als Gegenleistung akzeptiert ihn sein Meister nicht nur als Schüler, sondern als „Sohn“. Er trägt fortan die Verantwortung für die Fehler und Frevel seines Schülers, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinschaft. Aus dieser Verbindung entspringen die Titulare „Sohn“ für den Schüler und „Vater“, welche dem Meister gebührt. In der Regel werden nur junge Knaben in die Kunst des Erzählens unterwiesen. Es sind nur wenige Berichte von weiblichen Schülerinnen bekannt, welchen jedoch meist die Lehrzeit durch ihren Meister derart erschwert wurde, dass fast alle von ihnen ihre Ausbildung frühzeitig abbrachen. Nicht bekannt ist, wie viele weibliche Meister es in Kharkov gibt, doch muss ihre Zahl vergleichsweise gering sein. Stets werden sie innerhalb ihrer Gemeinschaft missmutig beäugt, sogar als Frevler beschimpft oder mit Missachtung bestraft.
Der Lehrer erwählt seine Schüler nach strengen Kriterien. Der Wunsch allein, Erzähler zu werden, genügt bei weitem nicht. Der Bewerber muss eine Vielzahl von Talenten unter Beweis stellen und ein naturgegebenes Begabung besitzen, welche die Rasskazchik die „Magie der Geschichten“ nennen. Tritt ein Schüler in die Dienste seines Lehrers, legt er sein altes Leben ab. Er lässt seine Familie, seine Freunde und selbst seinen Geburtsnamen zurück. Während eines Initiationsritus wird der Lehrling in sein neues Leben als Geschichtenerzähler sinnbildlich „hineingeboren“ und erhält einen neuen Namen, welcher zumeist aus einer kharkovianischen Volksweise oder Sage entspringt. Gerüchteweise soll es Geschichtenerzähler gegeben haben, welche begabte Jünglinge aus dem Hause ihrer Eltern raubten, weil diese dem Meister ihren Sohn nicht anvertrauen wollten. Ob jedoch an diesen Nachreden Wahrheit haftet, ist ungewiss.

Weitergabe und Sammeln von Geschichten

Neben dem Erzählen von Geschichten gehört das Sammeln neuer unbekannten Erzählungen zu der eigentlichen Berufung des Erzählers. Die gesammelten Geschichten werden auswendig gelernt und ausschließlich mündlich untereinander weitergereicht, wobei jeder Erzähler den Geschichten eine eigene Note verleiht, diese über die Zeit leicht verändert oder ausschmückt oder für unnötig gehaltene Details auslässt. So kann es sein, dass man im Norden Kharkovs im Märchen „Vom goldenen Schaf“ der Knabe sich mit einem Stock aus Birke gegen die Wölfe wehrt, während man im Süden darauf schwört, dass es ein Ast der Eiche war. Die Botschaft, welche die Geschichte vermitteln soll, bleibt jedoch stets dieselbe und gilt als unantastbar.

Die „Magie der Geschichte“

Welchen Regeln die „Magie der Geschichten“ folgt, ist Außenstehenden unbekannt. Fakt ist es aber, dass die Rasskazchik über eine Form von magischer Begabung verfügen, welche nur innerhalb ihrer eigenen Kreise weitergeben werden. Die Rasskazchik selbst erklären nur, dass es das Land sei, welches ihnen diese Gabe zum Geschenk machte. Einem geübten Meister ist es möglich Gerüche, Klänge und Erscheinungen in den Köpfen seiner Zuhörer wachzurufen, welche seine Geschichte begleiten. Vogelgezwitscher und der Geruch von nassem Laub offenbaren sich dem, dem von Tagesanbruch auf der Lichtung berichtet wird, während Donner und das Trommeln von Regen die Dichtungen von wilden Stürmen umringen.

Auftreten und Aussehen

Da sich die Erzähler allein ihrer Kunst verschrieben haben, beschränkt sich ihr Besitz nur auf das Nötigste. Ihre Kleidung ist fast ausschließlich funktionell. Weite Mäntel und Umhänge, sowie breitkrempige Hüte sollen Schutz vor Regen und Schnee gewähren. Hose und Wams sind zumeist schon viele Male ausgebessert und gestopft worden. Allerlei Flicken aus Stoffen, welche ihnen Bauern zum Geschenk gemacht haben, erzählen ihre eigenen Geschichten von langen Wanderungen über lange Reichsstraßen und durch unwegsames Gelände. Festes Schuhwerk und ein Rucksack, in dem das spärliche Hab und Gut aufgehoben wird, eine Decke, Schale, Becher und Essbesteck, sowie allerlei anderes Kleinod vervollständigen die Kleidung. Oft sieht man den Erzähler mit einem Geh- oder Wanderstock durch die Lande ziehen, welcher ihn nicht nur als Hilfe auf unzugänglichen Strecken dient, sondern auch als Prügel gegen Räuberpack, welche ein wehrloses Opfer erhoffen.
Manch ein umherreisender Erzähler führt ein Instrument mit sich, Flöte, Laute oder Trommel, mit der er, wenn ihn die Lust packt, seine Geschichten unterstreicht.
Was neben seinem magischen Talent und seiner Ausbildung den Rasskazchik vom gewöhnlichen Erzähler unterscheidet ist sein Name, den er in schwarzen Buchstaben auf dem Gesicht zur Schau trägt. Nur wenige beherrschen noch die alte Sprache der Bergleute im Süden Kharkovs, in welche die Namen geschrieben sind, eintätowiert am neunten Tage des neunten Jahres nach Beginn der Lehrzeit, während des Rituals an dem Tag, an dem der Schüler zum Meister wird.

Religion und Glaube

So vielfältig wie ihre Herkunft sind auch die Glaubensrichtungen, welchen die Erzähler angehören. Ihnen allen gemein ist jedoch der Glaube an die alten Naturgeister Kharkovs, die Huldigung von Mütterchen Kharkov und vor allem die Verehrung von Laska, einem weiblichen Geist, welcher oft in Gestalt eines Wiesels dargestellt wird. Sie gilt als die Beschützerin und Wohltäterin der Gemeinschaft der Rasskazchik. An ihr richten sie ihre innigsten Gebete und ihrem Dienst widmen sie ihr Leben.

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